50 JAHRE EU: EINER WIRD GEWINNEN
Sturmflut-Opfer und Kriegsgefahr mit fünfter Kolonne
Sturmflut-Opfer und Kriegsgefahr mit fünfter Kolonne
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Folge 7: Der Kalte Krieg prägte die Entwicklung Europas: Vor 60 Jahren erhielten die Bürgerinnen und Bürger des Landes Ratschläge für die Errichtung privater Schutzräume, weiß Seniorkorrespondent Siegfried Matlok in der Serie „50 Jahre EU“ zu berichten.
In seinem Neujahrsgruß hatte der Hauptvorsitzende des Bundes deutscher Nordschleswiger, Harro Marquardsen, auf 1962 als „Friedensjahr“ gehofft – verständlich vor dem Hintergrund der nach dem Bau der Berliner Mauer erhöhten sicherheitspolitischen Spannungen zwischen Ost und West.
Es kam jedoch ganz anders – schon im Januar, als die dänische Regierung 1,5 Millionen Broschüren an alle Haushalte im Lande lieferte. Mit dem dramatischen Titel: „Hvis krigen kommer“.
Auf 32 Seiten wurden die Bürger an die ernste Lage erinnert – unter anderem mit Informationen über die Alarmsirenen, die Gefahr radioaktiven Regens sowie mit Ratschlägen für die Errichtung privater Schutzräume und für die familiäre Notversorgung mit Lebensmitteln.
Mit den Vorbereitungen für diese Informations-Kampagne hatte die Regierung bereits im Juni 1960 begonnen, also vor dem Mauerbau am 13. August 1961. Staatsminister Viggo Kampmann unterstrich auf einer Pressekonferenz am 8. Januar 1962, „das Überleben in einer Kriegssituation sei davon abhängig, wie sich der einzelne Bürger schon in Friedenszeiten auf diese Gefahr vorbereitet“.
EWG-Hoffnungen in der Bauernrepublik
Trotz Nato und dem neu geschaffenen deutsch-dänischen Einheitskommando: Höchste Priorität hatte für die dänische Regierung neben der sicherheitspolitischen Lage die Frage der wirtschaftlichen Positionierung Dänemarks im Verhältnis zur Sechser-EWG und der eigenen Mitgliedschaft in der EFTA, dem Klub der Sieben.
Das 1961 von Außenminister Jens Otto Krag zum Ausdruck gebrachte Bemühen Dänemarks um eine Aufnahme in die EWG wurde in der deutschen Volksgruppe nachdrücklich unterstützt.
„Der trennende Charakter der Grenze wird in wirtschaftlicher Hinsicht immer weiter abgebaut. Er wird künftig nicht mehr ein Staudamm für den Strom wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens zwischen Nord und Süd und Süd und Nord sein“, schwärmte der Bund deutscher Nordschleswiger.
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Der Wunsch nach einer EWG-Mitgliedschaft hatte für die dänische Volkswirtschaft erhöhte Aktualität, nachdem sich der Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Januar 1962 auf die zweite Integrationsstufe geeinigt hatte, mit dem Ziel eines gemeinsamen Agrarmarktes.
Auch die deutsch-nordschleswigsche Bauernrepublik – oft scherzhaft von dänischer Seite als „Bondesrepublik“ bezeichnet – hoffte auf einen Durchbruch, nachdem deutsch-dänische Geheimverhandlungen veröffentlicht wurden, wonach Dänemark auch nach dem Beginn der gemeinsamen EWG-Agrarpolitik am 1. Juli weiterhin wichtige Produkte wie Rinder, Schweine, Käse und Eier nach Deutschland liefern könne.
Die Hamburger Sturmflut
Zunächst aber erschütterten tragische Nachrichten aus Deutschland die Menschen auch nördlich der Grenze: Bei einem Minenunglück auf der Zeche „Luisenthal" im saarländischen Völkingen starben am 7. Februar 299 Bergleute.
Ein Unglück kommt bekanntlich leider selten allein, und in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 wurde Norddeutschland von der schwersten Sturmflut seit 1855 heimgesucht.
Hohe Springfluten durchbrachen die Deiche – betroffen insbesondere Hamburg. 337 Menschen kamen in der Hansestadt ums Leben, davon allein 222 im Stadtteil Wilhelmsburg, wo die früher durch Bomben zerstörten Deiche nur durch Trümmerschutt ausgebessert worden waren.
Knapp ein Sechstel des Hamburger Staatsgebietes stand unter Wasser, 20.000 Menschen wurden vorübergehend obdachlos, 6.000 Gebäude zerstört, und die Schäden wurden auf insgesamt eine dreiviertel Milliarde D-Mark geschätzt.
Ein Hamburger Innensenator namens Helmut Schmidt hatte durch seine unbürokratischen Rettungsmaßnahmen noch Schlimmeres verhütet, sein „Heldenstatus“ brachte ihn später in höchste politische Ämter – von 1974 bis 1982 sogar als Bundeskanzler.
Tonderns Rettung: Der Tod kam nicht aus Südwest …
Mit der Sturmflut raste der Tod über Hamburg, doch in Nordschleswig hielten die Deiche stand, auch vor Tondern (Tønder). Die bedrohte Westküsten-Stadt blieb verschont, weil der Wind aus nordwestlicher Richtung kam. Wäre er auf Südwesten umgesprungen und die Hauptkraft des Sturmes wäre von dort gekommen, dann wäre es zweifelhaft gewesen, ob die Deiche diesem Druck standgehalten hätten.
Die Hauptschäden wurden an der Nordseite des Römdamms verzeichnet. Wenn die Wassermassen bei umspringendem Südweststurm zwischen Röm (Rømø) und List hineingedrückt wären, dann hätten sie sich wie in einer Wanne vom Hindenburgdamm bis zum Römdamm gestaut, und dann wären die Deiche an der Wiedaumündung durchbrochen worden. In einem seiner berühmten Wochenend-Telefon-Interviews beschrieb der Tingleffer Lokalredakteur Günther Kirsten die Schreckensvision: „Was das für die Stadt Tondern bedeutet hätte, kann sich jeder ausmalen, der weiß, dass diese Stadt nur knapp über dem Meeresspiegel liegt.“
Sönnichsen: Sofortprogramm für den Deichschutz
Der Hoyeraner Kooginspektor Fritz Sönnichsen besichtigte wenige Tage nach der Sturmflut die Verwüstungen in Eiderstedt und erklärte danach, man könne „nur Dank empfinden, dass unsere Gegend von dieser Sturmflut verschont geblieben ist“.
Sönnichsen forderte ein Sofortprogramm für den Deichschutz im Kreis Tondern. „Der heutige Zustand ist nach den jetzt gemachten Erfahrungen der Februar-Sturmflut absolut unzureichend. Es müssen noch vor dem Herbst weitere fest asphaltierte Katastrophenwege gebaut werden.“
Das Amtsratsmitglied der Schleswigschen Partei, der Leiter der Tingleffer Nachschule, Dr. Paul Koopmann, forderte die Regierung in Kopenhagen dazu, „Millionen für die nordschleswigschen Deiche bereitzustellen – statt für den Ausbau des Kopenhagener Straßennetzes“.
In Nordschleswig entwurzelte der Sturm rund 75.000 Bäume, und die materiellen Schäden an der jütischen Westküste waren enorm, aber glücklicherweise gab es auf dänischer Seite kein einziges Todesopfer zu beklagen.
Die Angst vor einem dritten Staatsbegräbnis
Die Dänen machten sich auch Sorgen – vor allem um den Gesundheitszustand ihres sozialdemokratischen Staatministers Viggo Kampmann, der oft tagelang verschwunden war, weil er insgeheim als manisch-depressiver Patient in psychiatrischen Abteilungen des Kopenhagener Kommunehospitals behandelt wurde.
Gleichzeitig litt er an einer schweren Herzkrankheit, und als er im August 1962 mit einem zweiten Herzinfarkt ins Krankenhaus gebracht wurde, befürchtete die Partei, dass Kampmann nach Hans Hedtoft und H. C. Hansen als dritter Staatsminister im Amt sterben würde. Und – angeblich – wollte man König Frederik IX. ein drittes Staatsbegräbnis für einen Staatsminister ersparen.
In der sozialdemokratischen Führung hatte die Diskussion über seine Nachfolge längst begonnen – mit einer Entscheidung. Am 28. August musste Kampmann, der sich im Krankenbett des Sundby-Hospitals zunächst noch gegen seine Ablösung gewehrt hatte, zurücktreten.
Krag neuer Staatsminister
Der konservative Politiker Poul Møller bescheinigte dem 1971 verstorbenen Kampmann, er sei „zwar der dänische Politiker mit dem höchsten Intelligenz-Quotienten gewesen, doch dies habe ihn nicht zum klügsten Politiker gemacht“.
Außenminister Jens Otto Krag, der bereits im Mai den schwer erkrankten Kampmann für längere Zeit als Regierungschef vertreten hatte, wurde neuer Parteichef und damit neuer Staatsminister, während Per Hækkerup Krags bisheriges Außenressort übernahm.
Krags Ernennung wurde im In- und Ausland begrüßt, er galt als überzeugter Europäer, nachdem einige Monate zuvor eine Rede bekannt geworden war, die er im Oktober 1961 in geschlossenem Kreis in Brüssel gehalten hatte.
Darin hatte er betont, „dass Dänemark nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet den Zielen des Gemeinsamen Marktes zustimmt, sondern es ist im selben Maße bereit, aktiv für eine engere politische Zusammenarbeit mit dem Ziel einer europäischen Einigung einzutreten“.
Nie wieder Krieg – und dann die Kuba-Krise
Am 8. August 1962 weihte die deutsche Volksgruppe in Anwesenheit von Tausenden auf dem Knivsberg das „Ehrenmal“ für die Gefallenen der Weltkriege ein – verbunden mit der Hoffnung: Nie wieder Krieg!
Die staatliche Informationsbroschüre „Wenn der Krieg kommt“ war in Vergessenheit geraten, ja die meisten Dänen hatten die offizielle Warnung gar nicht richtig ernst genommen.
Eine Gallup-Umfrage im April 1962 ergab, dass 66 Prozent der Dänen zwar die Broschüre gelesen hatten, doch die meisten meinten, dass sie ihre Einstellung zum eigenen Überleben im Falle eines Atomkrieges dennoch nicht verändert habe. Nur 4 Prozent der Bevölkerung hatten Notreserven an Lebensmitteln eingekauft, und lediglich 6 Prozent hatten einen eigenen Luftschutzraum gebaut beziehungsweise hatten Pläne für die eigene Sicherheit.
Doch plötzlich stand die Welt wieder am Rande eines 3. Weltkrieges: Nicht Berlin, sondern Kuba ließ die Menschen in Ost und West den Atem anhalten. Sowjetische Atomraketen waren auf Kuba gesichtet worden und bedrohten damit direkt vor der Haustür die Sicherheit der USA.
Der amerikanische Präsident John F. Kennedy drohte den Sowjets mit einer Seeblockade, die bei Verletzung einen Krieg zwischen den Atommächten ausgelöst hätte.
Sowjet-Schiffe durch den Öresund
Dänemark fernab spielte dabei jedoch keine unwichtige Rolle, denn die mit Raketen beladenen sowjetischen Schiffe mussten durch das Nadelöhr Ostsee – und unterlagen damit dänischer Überwachung aus der Luft und zur See.
Am 21. Oktober hatten die Radarstationen und die Überwachungsstation auf Langeland das sowjetische Schiff „M/S Krasnograd“ – mit Mittelstrecken-Raketen und Soldaten an Bord – erfasst, am 22. Oktober dann in der Nähe des Leuchtturms Anholt.
Am 24. Oktober meldete sich erneut Langeland – mit der wichtigen Information einer Kurskorrektur der „Krasnograd“, die nun wieder in die Ostsee zurückgekehrt war. Mit der höchsten Nato-Prioritätsstufe „X“ wurde die Meldung durch den militärischen Nachrichtendienst an Washington weitergeleitet.
Angesichts dieses sowjetischen Rückzuges konnte Präsident Kennedy in seiner berühmten Fernsehrede „mit den Muskeln spielen“, wie manche Experten behaupten.
„Station 5“ – Harro und Kennedy
Kam der entscheidende Hinweis für Kennedy vielleicht sogar aus Lügumkloster (Løgumkloster)? 1952 hatte der militärische Nachrichtendienst FE („Forsvarets Efterretningstjeneste“) von Bauer Harro Marquardsen in Fauerby ein 2.500 Quadratmeter großes Waldstück erworben, dort wurde die sogenannte „Mauermeister-Villa“ erbaut, in der Tag und Nacht rund 25 Mitarbeiter „top-secret“ beschäftigt waren.
Der Telegrafenmast in Höhe von 50 Metern war für alle im flachen Lügumkloster sichtbar, die „Station 5“ („Signals Intelligent“) fischte tief in der Ostsee, konnte sogar Gespräche in Moskau abhören.
Gerüchte besagen sogar, dass die „Station 5“ während der Kuba-Krise wichtige Informationen geliefert haben soll, doch die damals Verantwortlichen schwiegen gegenüber dem „Nordschleswiger“ – noch im Jahre 2010 – mit dem Hinweis: „Unter den Stimmen ist derjenige, der die Zeichensprache beherrscht, König.“
Nach Beendigung des Kalten Krieges wurde die FE-Villa umgebaut zu einem Wald-Kindergarten – und erhielt den neuen märchenhaften Namen „Villa Villekulla“.
Warnung vor fünfter Kolonne
Der Historiker Peer Henrik Hansen bezweifelt die dänischen Verdienste während der Kuba-Krise und hat auch ein angebliches Dankesschreiben von US-Präsident Kennedy an die Marine auf Langeland dementiert, aber im Oktober 1962 hatten nicht nur viele Menschen hier im Lande Angst vor einem Atomkrieg.
Nun erinnerten sich die Dänen an die Informationsbroschüre „Hvis krigen kommer“ aus dem Frühjahr und fürchteten einen Krieg, der laut Staatsminister Kampmann „nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheidet“.
„Der Angreifer wird propagandistische Mittel einsetzen und versuchen, Furcht und Panik zu stiften“, hatte er die Bevölkerung gewarnt und sie zum Kampf gegen einen unbekannten Feind aufgefordert: gegen eine „fünfte Kolonne“ im eigenen Lande.
Die Menschen im stillen Winkel der jütischen Halbinsel konnten Ende 1962 erleichtert aufatmen, die Gefahren durch Natur und Militär zogen an Nordschleswig vorbei, aber der Schlag des Meeres traf mitten in die neue Wohlstandsgesellschaft hinein.
„Der Nordschleswiger“ zog die Lehren aus der tödlichen Hamburger Sturmflut mit fast prophetischen Worten, auch für die erste Gruppe von Abiturienten, die das 1959 neu errichtete Deutsche Gymnasium für Nordschleswig nach dem Kriege im Juni 1962 entlassen hatte.
„Wir anderen sind durch die Sturmflut erinnert worden an die Abhängigkeit von Mächten, die stärker sind als wir. Wir empfinden stärker denn je, wie verwundbar unser technisches Zeitalter in Wirklichkeit ist.“