Schwangerschaft

Ein folgenschwerer Schluck: Felix und sein Leben mit FASD

Ein folgenschwerer Schluck: Felix und sein Leben mit FASD

Ein folgenschwerer Schluck: Felix und sein Leben mit FASD

Lise Stieglitz/shz.de
Schleswig-Holstein
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Es gibt prinzipiell keine unschädliche Menge an Alkohol während der Schwangerschaft. Foto: Christin Klose

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Jede vierte Frau trinkt in der Schwangerschaft, mit oft dramatischen Folgen. Adoptivmutter Sabine Schmidt hat sie erlebt.

Hauptschul-, Realschulabschluss, Abitur? Das war Sabine Schmidt* egal. Der Schule, die sie für ihren Sohn ausgewählt hatte, nannte sie vor allem einen Wunsch, ein Ziel: Felix soll lebensfähig werden.

Zu diesem Zeitpunkt lag bereits ein langer Weg hinter der heute Mitte 50-Jährigen. Dass Felix unter einer Fetalen Alkohol Spektrumstörung (FASD) leidet – das wusste die gelernte Krankenschwester aus Schleswig-Holstein zu diesem Zeitpunkt aber noch lange nicht. Die richtige Diagnose bekam der Junge erst mit 14 Jahren.

Sabine Schmidt und ihr Ehemann haben Felix adoptiert, da war er eineinhalb Jahre alt. Die leibliche Mutter lernten sie damals kennen. Das Gefühl sei gut gewesen. „Es war eine Frau, die das Beste für ihr Kind wollte, es aber selbst nicht leisten konnte“, so Sabine Schmidts Eindruck. Alles schien normal, das Jugendamt habe ihnen zu diesem „gesunden Kind“ gratuliert.

Aber Felix ist nicht gesund. Und der heute 19-Jährige wird es auch nie sein. Weil seine leibliche Mutter in der Schwangerschaft Bier getrunken hatte. Aus Unwissenheit, weiß Sabine Schmidt heute. Um die Diagnose abzusichern, suchte sie damals das Gespräch mit der Frau. „Sie habe keinen Schnaps getrunken. Nur Bier. Ihr ist nicht klar gewesen, dass auch das Alkohol ist.“

Eine unschädliche Menge gibt es nicht

Damit ist sie nicht allein, weiß Kristin Ruhnke vom Kieler Verein „Frauen Sucht Gesundheit“. „Jede vierte Frau trinkt während der Schwangerschaft zumindest gelegentlich Alkohol.“

Alkohol wirkt sich direkt auf das Ungeborene aus. Es gelangt über die Plazenta in den Blutkreislauf des ungeborenen Kindes. Eine unschädliche Menge gibt es nicht.

Kristin Ruhnke, Diplomsozialpädagogin

Die Gründe seien ganz unterschiedlich. Fehlende Information über die Gefahren, Unwissenheit über die Schwangerschaft oder der Versuch, diese noch geheim zu halten, Suche nach Entspannung oder auch eine Suchterkrankung. Sie erwarte, dass die Situation sich durch die Corona-Krise verschärft. Diese bringe extreme Herausforderungen für viele Menschen mit sich, welche dazu führen könnten, dass der Griff zur Flasche auf der Suche nach Ablenkung und Entspannung noch häufiger werde.

Kieler Verein bietet Hilfe für Frauen in SH

Gemeinsam mit ihrer Kollegin Nikole Driesel will die Diplomsozialpädagogin den Themen FASD und Alkohol in der Schwangerschaft deshalb größere Aufmerksamkeit verschaffen. Im Fokus: Die Prävention. Mit dem Projekt „DAISI – Alkoholfrei in der Schwangerschaft“ wendet sich der Verein gezielt an Frauen aus Schleswig-Holstein.

Nikole Driesel und Kristin Ruhnke vom Kieler Verein "Frauen Sucht Gesundheit". Foto: Frauen Sucht Gesundheit e.V.

Jugendliche Mädchen, Frauen mit Kinderwunsch und schwangere Frauen haben hier die Möglichkeit, sich zu informieren und beraten zu lassen – ohne Schuldzuweisungen und Druck. Auch werdenden Großmüttern, Freundinnen oder Frauen, die beruflich mit den Themen Schwangerschaft und Suchtmittelkonsum befasst sind, stehe das Angebot offen, so Ruhnke.

So wie es keine unkritische Menge gebe, gebe es auch keinen unkritischen Zeitpunkt während einer Schwangerschaft, so die Expertin. „In der ganz frühen Phase sorgt der Körper selbst dafür, ob das Kind lebensfähig ist oder nicht. Wenn man da trinkt, kommt es oft zu Fehlgeburten, die die Frau gar nicht merkt.“ Deshalb betreffe FASD eben gar nicht überwiegend Frauen mit einer Alkoholsucht. Das Problem gebe es in allen gesellschaftlichen Schichten.

Wie wichtig der Bereich Prävention ist, zeigen auch die Zahlen – oder besser gesagt die Hochrechnungen. Man geht davon aus, dass in Deutschland jährlich mehr als 12.500 Kinder mit einer Fetalen Alkoholspektrumsstörung geboren werden – davon 2000 bis 3000 mit dem Vollbild. „Es ist die häufigste angeborene Behinderung. Dabei ist sie zu 100 Prozent vermeidbar“, betont die Projektleiterin und Diplomsozialpädagogin.

 

Sobald ein Schwangerschaftstest positiv wäre, hat der Körper die Verantwortung an die Frau abgeben. Gerade die Entwicklung des Herzen und des Gehirns beginnen sehr früh.

Kristin Ruhnke, Frauen Sucht Gesundheit

Nachholbedarf bei der Diagnose von FASD

Die Dunkelziffer bei FASD sei aber vermutlich sehr viel größer. Denn beim Thema Diagnose gebe es großen Nachholbedarf. Das liege auch an fehlender Akzeptanz unter Medizinern. Hier sei dringend mehr Aufklärung nötig, betont die Sozialpädagogin. „Kaum eine Mutter bekennt sich zudem dazu, in der Schwangerschaft getrunken zu haben. Sie hat Schuldgefühle. Aber das hilft dem Kind nicht weiter. Und es verfälscht die Diagnostik.“

Insbesondere wenn ein Kind nicht das Vollbild zeigt, werde die Krankheit in Kliniken und von Kinderärzten häufig übersehen. Wenn nicht typische körperliche Symptome im Kleinkindalter auftreten, wie etwa Augenstellung, Mund-Nase-Abstand, Skelettfehlbildungen oder Herzfehler.

So wie bei Felix. Dass etwas mit dem Jungen nicht stimmte, das ahnte Sabine Schmidt eigentlich schon kurz nachdem er zu ihnen kam, kurz nachdem sie von jetzt auf gleich Mutter wurde. „Er konnte nicht still sitzen, räumte die Fensterbank ab, weil er rausschauen wollte, solche Dinge“, erinnert sie sich an die erste Zeit mit ihrem Sohn. Doch auch was Motorik und Sprache angehen, war Felix nicht so weit, wie er es für sein Alter hätte sollen. „Das war für uns aber erstmal erklärbar und keine Erkrankung. Das ist ja ein Trauma fürs Kind, aus der gewohnten Umgebung herausgenommen zu werden.“

Kinderarzt stellt früh eine Entwicklungsverzögerung fest

Eben diese Erklärung hatte auch der Kinderarzt, der schon bei den U-Untersuchungen eine Entwicklungsverzögerung feststellte. Von nun an begannen für die kleine Familie die Herausforderungen, die Zeit der Therapien und Behördengänge.

 

Ich habe das nie als Problem, sondern als Aufgabe empfunden. Aber Sie haben ein Kind, dass vollen Einsatz braucht. Also arbeiten und arbeiten und arbeiten Sie – und kommen gar nicht mehr zum Luftholen.

Sabine Schmidt

Ergotherapie, Logopädie – Felix lernte zwar dazu, aber er holte nicht auf und andere Probleme wurden im Laufe der Zeit sichtbar, wie etwa Konzentration- und Aufmerksamkeitsprobleme und Schwierigkeiten im Sozialverhalten. Auch eine mittelgradige Hörbehinderung wurde festgestellt. Auch das eine Folge des Alkoholkonsum der leiblichen Mutter.

„Es gab Zeiten, da mochte ich nicht mal mehr auf den Spielplatz mit ihm“, erinnert sich Sabine Schmidt. „Er war im Umgang mit anderen Kindern nicht aggressiv, aber grob und voller Energie. Wenn beim Kinderturnen ein Kind nicht so schnell lief wie er, hat er es einfach weggeschubst. Ich konnte ihn vorher noch so häufig warnen, dies nicht wieder zu tun.“ Eigentlich Gelerntes wird nicht verinnerlicht. Typisch für FASD. Felix muss die Konsequenzen seines Verhaltens unmittelbar erleben.

Verurteilungen durch andere Eltern und Depression

Schlimm seien die Verurteilungen anderer Eltern gewesen – und sogar aus der eigenen Verwandtschaft. „Du kannst dein Kind nicht erziehen. Felix soll nicht mehr bei den Pfadfindern mitmachen – und natürlich auch nicht auf Klassenfahrt.“ Es war eine unglaublich schwere Zeit für sie und ihren Mann.

Sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr muss man präsent sein.

Sabine Schmidt

Dazu der Kampf um die richtige Förderung, etwa einen integrativen Kindergartenplatz und schließlich um den Platz in einem Internat in Nordrhein-Westfalen. Und immer wieder kamen weitere Auffälligkeiten hinzu.

„Ich fühle mich vom Jugendamt betrogen“, sagt die Schleswig-Holsteinerin. „Als Adoptiv- oder Pflegeeltern muss man sich im Vorfeld nackig machen, mit Lebenslauf, eigener Kindheit.“ Es gehe in erster Linie darum, Eltern für ein Kind zu finden, nicht ein Kind für die Eltern. Aber jedes Jugendamt müsse nach dem Adoptionsvermittlungsgesetz auch über die leiblichen Eltern ermitteln.

Irgendwann war der Druck für sie zu groß. Sabine Schmidt hatte eine Erschöpfungsdepression und eine Krebserkrankung, konnte nicht mehr arbeiten. Sie machte eine Reha, kämpfte sich auch da wieder heraus. Heute weiß sie es genau: Sie kann nichts dafür, Felix kann nichts dafür. Sein Gehirn wurde durch den Alkohol nachhaltig geschädigt.

Die richtige Diagnose in Berlin

„Schon geringe Mengen Alkohol können irreversible Schädigungen am Gehirn; am zentralen Nervensystem und an den Organen hervorrufen, die vielfach nicht äußerlich sichtbar sind“, erklärt Kristin Ruhnke. Die Folgen sind etwa Lernschwierigkeiten, unangemessenes Sozialverhalten und Hyperaktivität. Betroffene Kinder, aber auch Erwachsene erfahren deshalb häufig zunächst die Diagnose ADHS.

Auch bei Felix war das so. Er bekam Medikamente, durch die er den Sprung auf eine weiterführende Schule schaffte. Doch trotz aller Bemühungen, aller Förderungen, aller geschaffener Strukturen und all der Liebe seiner Eltern – die Probleme blieben.

Es gibt Kinder, die nicht schlafen können, weil die hirnorganische Funktion so beeinträchtigt ist, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Die schreien, kratzen, schlagen. Die Bandbreite ist so weit gespannt. FASD ist sehr individuell, man hat nicht sofort ein Bild.

Sabine Schmidt

Die richtige Diagnose bekam die Familie erst vor fünf Jahren in Berlin an der Charité. Sabine Schmidt hatte Kinderfotos mitgebracht, alle offiziellen Diagnosen und all ihre Erfahrungen mit Felix. „Die Diagnose entlastet erstmal, auch weil man weiß, ich bin nicht schuld, wir haben alles getan, um Felix zu fördern.“

Felix hat vieles geschafft

Eine frühe Diagnose sei unglaublich wichtig, betont deshalb auch Kristin Ruhnke. „Betroffene haben ein Recht darauf, ernst genommen zu werden.“ 80 Prozent der FASD-Kinder könnten kein normales Leben führen. Gut 90 Prozent lebten in Pflegefamilien, viele Familien scheitern an diesen Herausforderungen, so die Sozialpädagogin. Ein großer Teil der Betroffenen werde sogar kriminell und/oder entwickele ein Suchtproblem. Sie seien leicht beeinflussbar.

Ganz viele kriegen ihren Alltag schlichtweg nicht in den Griff. Eine Perspektive, die sich niemand für sein Kind wünschen kann.

Kristin Ruhnke, Frauen Sucht Gesundheit

Auch Felix wird ein Leben lang unter den Folgen des Alkoholkonsums seiner leiblichen Mutter leiden. Vielleicht wird auch er immer die Hilfe anderer benötigen. Denn Strukturen einzuhalten und vor allem der Umgang mit Geld bereiten ihm weiter große Schwierigkeiten. Aber gemeinsam mit seinen Eltern hat der 19-Jährige Vieles geschafft.

„Felix soll lebensfähig werden“ – diesen Wunsch hatte Sabine Schmidt damals an die Schule gerichtet. Vor kurzem hat Felix eine handwerkliche Ausbildung begonnen. „Was das Leben weiter so bringt, wird die Zeit zeigen.“

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