Hohe Infektionszahlen

Stochern im Nebel: Warum Flensburg zum Corona-Hotspot wurde

Stochern im Nebel: Warum Flensburg zum Corona-Hotspot wurde

Stochern im Nebel: Warum Flensburg zum Corona-Hotspot wurde

Tomma Schröder/shz.de
Flensburg
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Nebel überall: So diffus wie der Blick am Hafen ist die Corona-Lage in der Stadt Flensburg. Foto: Martin Schulte

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Fördestadt als Top-Thema in den Tagesthemen. Überall wird gelockert – nur in #Flensburg nicht. Was ist da los?

Es war, als hätte jemand die Stadt in ein künstliches Koma versetzt: keine Stimmen, keine Autos, keine Bewegungen. Notoperation „Ausgangssperre“, eine Woche lang, jeden Tag , ab 21 Uhr.

Zur Stimmung in der Stadt passte diese Stille nicht. Denn die Unruhe ist groß. Flensburg ist seit Wochen ein Corona-Hotspot, war sogar Top-Thema in den Tagesthemen. Und während ringsum im Land Kinder wieder zur Schule gehen, Friseure, Gartencenter und – ja auch – Hundeschulen wieder öffnen dürfen, warnen Krankenhäuser in Flensburg vor der Belastungsgrenze und die Corona-Regeln sind strenger denn je.

Auch die auf dem Bund-Länder-Gipfel beschlossenen Lockerungen gelten für Flensburger nicht. Das ist hart. Und es wirft Fragen auf: Wie kann es sein, dass eine Stadt mit sehr niedrigen Infektionszahlen im Jahr 2020 plötzlich mit einer viermal so hohen Inzidenz dasteht wie vor dem bundesweiten Lockdown?

War es die Grenznähe?

„Wenn wir das wüssten, wären wir schon viel weiter“, sagt Clemens Teschendorf, Pressesprecher der Stadt. Und doch finden sich natürlich zumindest Versatzstücke einer Antwort, die – wie so vieles in dieser Pandemie – nicht so simpel ist. Da ist die ansteckendere britische Virus-Variante B 1.1.7., die sich – aus Dänemark kommend – in der Stadt stärker als anderswo breit gemacht hat.

Offiziell geht jede zweite Infektion in Flensburg auf diesen Virustyp zurück. Da Laboruntersuchungen aber viel Zeit benötigen, geht man davon aus, dass die Rate aktuell vereits bei fast 100 Prozent liegt.

Dass ist vermutlich auch der Grund, warum in den Statistiken der Ansteckungsort „Familie/WG“ vorne liegt. Wenn sich ein Familienmitglied irgendwo infiziert, trifft es im Anschluss oft die ganze Familie. Auffällig sei, “dass nahezu alle Exponierten symptomatisch werden“, schreibt das Gesundheitsministerium in Kiel. Soll heißen: Fast jeder, der sich ansteckt, wird krank – auch Kinder.

Als alleinige Erklärung für die Flensburger Zahlen taugt B 1.1.7 allerdings nicht, weil sie auch anderswo schon recht verbreitet ist. Auch Philip Rosenstiel, Mikrobiologe am UKSH, betont, die altbekannten Regeln wirkten nach wie vor: Mit Abstand, Hygiene, Alltagsmasken und Lüften ist auch B 1.1.7. beizukommen. Nur Fehler verzeihe die Variante eben nicht so leicht. Und das ist die Krux: Menschen machen Fehler.

Die Jahres-Wende

Ein großer Fehler aus Flensburg ist mittlerweile gut bekannt. Als das Jahr 2020 mit all seinen Zumutungen endlich verabschiedet werden sollte, wurde der Grundstein dafür gelegt, dass es in Flensburg im neuen Jahr noch schlimmer kommt.

Die Ursache: drei illegale Silvesterfeierlichkeiten. Wer genau, wie und wo feierte, weiß die Stadt Flensburg bis heute nicht. „Mindestens eine der Feiern fand in Dänemark statt“, sagt Stadtsprecher Teschendorf. Teilgenommen haben, so viel zeigen die Infektionsketten, Leiharbeiter aus Flensburg.

Das böse Erwachen kam – wie immer bei SARS-CoV-2 – verzögert. Bis wirklich klar wurde, was in der Silvesternacht passiert war, war die Inzidenz binnen einer Woche bereits von 47 auf 144 geklettert. Weil viele Infizierte kein Deutsch sprachen, aber auch aufgrund der medialen Aufmerksamkeit und der Forderungen nach Konsequenzen, war die Kontaktnachverfolgung schwierig.

„Da hatte dann plötzlich niemand mehr an den Partys teilgenommen“, erzählt Teschendorf. „Die Menschen sollen ja freiwillig sagen, wo sie waren. Und mit zunehmenden Druck bekamen wir immer weniger heraus.“ So blieben viele Ansteckungswege im Verborgenen. Ende Januar schließlich verzeichnete die Stadt für 2021 bereits mehr Infizierte als 2020. Das Infektionsgeschehen ist seitdem so, wie die Stadt es seit Jahresbeginn beschreibt: diffus.

Blinder Punkt Leiharbeit

Momentan gibt es in Flensburg etwa 650 aktive Infektionen. All diese Menschen werden während der Quarantäne angerufen, befragt und betreut. Im Gesundheitsamt, sagt Teschendorf, werden 14 Stunden-Schichten geschoben. Und das, obwohl die 5,5 Vollzeitstellen im Gesundheitsamt bereits um 37 ergänzt wurden und auch noch drei Mitarbeiter vom Robert-Koch-Institut (RKI) und neun Soldaten abgestellt sind.

Manchmal könnte man meinen, jemand hat diese Pandemie als Lackmustest für die Demokratie ersonnen: Sie bestraft die Fehler weniger mit bisher unvorstellbaren Härten für viele. Sie versetzt einige wenige in die Lage, auf unsicherer Fakten- und Erfahrungsbasis zu entscheiden, wer wann raus darf, wer wen trifft und wer welchem Risiko ausgesetzt werden darf.

Und schließlich wirft diese Pandemie auch Licht in dunkle Ecken, die ansonsten gerne ausgeblendet werden. Leiharbeit ist so eine Ecke. Letztlich zahlt Flensburg für vermeintlich billige Arbeitskräfte nun einen hohen Preis. Bisher wurden sie nur als Arbeitskräfte gesehen, die Pandemie hat gezeigt, dass sie Menschen sind.

Und wahr ist auch: Die Leiharbeit erklärt längst nicht alles, auch anderswo stecken sich Menschen an. Kleine Fehltritte reichen aus: ausnahmsweise keine Maske, ausnahmsweise ein Treffen mit Bekannten, ausnahmsweise kein Homeoffice.

Glück und Unglück

Kai Giermann muss man mit dem Wort „Ausnahme“ nicht mehr kommen. Es gäbe viel zu viele davon, sagt der Leiter des Gesundheitsamtes Schleswig-Flensburg. „Ich fühle mich manchmal, als würde ich mit einem löchrigen Korb zum Wasser holen geschickt.“

Umgeben von lauter Grünpflanzen sitzt er in seinem Schleswiger Büro und erklärt den gesamten Pandemieverlauf mit Zahlen und Daten. Zentrale Quellen wie die des RKI, meint Giermann, seien oft nicht aktuell genug und die Handlungsvorgaben der Politik viel zu langsam. Man müsse vor Ort gleich handeln, meint Giermann.

Auch im Flensburger Nachbarkreis sind die Zahlen gestiegen und auch hier sind 30 bis 50 Prozent der Ansteckungen nicht mehr nachvollziehbar. „Die Quelle verschwindet im Nebel“, sagt Giermann. Den Mediziner und Informatiker wurmt das sichtlich.

Das Gesundheitsamt des Kreises habe bereits zu Beginn der Pandemie die Organisationsstruktur auf Seuchenbekämpfung abgestimmt, erzählt er. Man habe stets versucht, vor der Welle zu bleiben. Und die meiste Zeit sei das gelungen. Giermann sagt aber auch: „Ich habe Glück gehabt, ich habe ein voll besetztes Gesundheitsamt.“

Flensburg hat dieses Glück nicht. Während Giermann und Leiter anderer Gesundheitsämter informieren und erklären, ist es in Flensburg seltsam still. Die Stelle des ärztlichen Leiters des Gesundheitsamtes ist seit über einem Jahr vakant. Und das mitten in der Pandemie, die damit eine weitere dunkle Ecke ausleuchtet: Der öffentliche Gesundheitsdienst hat ein massives Personalproblem.

Mehrere Faktoren zusammen

„Mehrere Gesundheitsämter berichten von Schwierigkeiten bei der Besetzung ärztlicher Stellen“, gibt auch das Gesundheitsministerium in Kiel zu. Ein Phänomen, das seit Jahren bekannt ist. Während die Individualmedizin boomt, ist die Medizin, die eine ganze Bevölkerung schützen kann und soll, vollkommen in den Hintergrund geraten. „Es fehlt am Fachwissen, und es fehlt an Personal“, sagt Martin Oldenburg, der bis 2013 Leiter des Gesundheitsamtes in Flensburg war.

„Wenn niemand da ist, der sich mit Epidemiologie auskennt, der Erfahrung hat, dann gibt es auch niemanden der schnell entscheiden kann, welche Maßnahmen wirklich relevant und welche verzichtbar sind“, sagt Oldenburg. Er sieht auch das Land in der Pflicht: Schleswig-Holstein bräuchte – wie in allen anderen Bundesländern auch – ein Landesgesundheitsamt, um die Arbeit vor Ort fachlich zu unterstützen.

Denn letztlich, meint Martin Oldenburg, seien in Flensburg einige Faktoren zusammengekommen: die Grenznähe, ein hoher Anteil benachteiligter Gruppen auf engem Wohnraum, und vermutlich auch eine gewisse Pandemie-Müdigkeit.

„Kommen da nur gemeinsam durch“

Die bekommt auch Clemens Teschendorf zu spüren. „Wir können nichts richtig machen“, sagt er. „Erst heißt es, wir kontrollieren zu wenig. Jetzt kontrollieren wir mehr, und dann ist es auch nicht richtig.“ Beschimpfungen, krude Behauptungen und Anfragen häufen sich. „Man merkt einfach, dass die Leute auf der Felge fahren.“

Der Blick von außen auf das Rathaus ist ein anderer. Während darauf vertraut werden muss, dass dort alles Menschenmögliche gegen die Pandemie gemacht wird, ist der eigene Handlungsradius sehr beschränkt. Für viele Bürger gilt: Das Wirksamste gegen die Pandemie sind nicht die Dinge, die man tut, sondern die, die man eben nicht tut. Das ist nicht sehr befriedigend. Und es verführt dazu, sich aufzuregen, sich zu ärgern, zu verzweifeln. Aber, sagt Martin Oldenburg, und das ist vielleicht eine weitere Lektion der Pandemie: „Wir kommen da nur gemeinsam durch.“

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