Leitartikel

„Fortschritt“

Fortschritt

Fortschritt

Apenrade/Aabenraa
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In Dänemark sind wir richtig gut darin, neue Wege zu gehen. Das gilt auch digital. Doch während überwacht und kontrolliert wird wie nie, wird der Schutz des Einzelnen vergessen, meint Cornelius von Tiedemann.

Vertrauen und Pragmatismus – das sind zwei Eigenschaften, die die dänische Gesellschaft beschreiben können und die mit dafür sorgen, dass sie zu den digital am weitesten entwickelten Gesellschaften der Welt gehört. Die Menschen in Dänemark vertrauen einander, und sie vertrauen auch dem Fortschritt. Pragmatische technische Lösungen machen den Alltag einfacher und oft auch unterhaltsamer.

Es läuft, rein ökonomisch, auch deshalb in Dänemark, weil keine Scheu vor neuen Wegen besteht. Dänemark ist ein Land, an dem sich andere orientieren, ein Land, in dem heute schon Wirklichkeit ist, was für andere noch unter der Überschrift „Zukunft“ läuft.

Eine Herausforderung bei all diesem Fortschritt, dem sich die Menschen in Dänemark vertrauensvoll und pragmatisch anschließen, ist es, dass er nicht von einem „Rat der Weisen, Guten und Selbstlosen“ gesteuert wird – sondern vor allem vom Profitstreben privater Unternehmen.

Sie sind nicht dazu da, unser Leben besser zu machen. Sie sind dazu da, uns möglichst effektiv unser Geld abzuluchsen – oder Informationen über uns und unser Umfeld, mit dem später Profit generiert werden kann.

Fast jeder, zum Beispiel wer ein Smartphone in seiner Tasche hat, wird fast sekundengenau geortet. Nicht nur vom Hersteller und Netzbetreiber. Auch die vielen Apps haben oftmals „Ortungsdienste“ installiert. Die können wir zwar deaktivieren, doch ob sie dann auch wirklich abgeschaltet sind, ist eine andere Frage, wie Untersuchungen zeigen.

Mit diesen Ortungen ermitteln die App-Anbieter unsere Bewegungsmuster. Je unachtsamer wir mit unseren Privatsphäre-Einstellungen sind, desto mehr erfahren sie über uns. Für Google zum Beispiel ist das ein Milliardengeschäft. Seit Jahren schon zeichnen die Amerikaner auf, wo wir wann sind und ob wir zum Beispiel eine Werbetafel passieren oder in einem Kleidungsgeschäft etwas kaufen oder es nur anprobieren – und ob wir es dann später von zu Hause oder aus der U-Bahn bestellen.

Diese Informationen sind bares Geld wert. Alles, was wir auf Facebook oder Instagram (was ja letztlich derselbe Laden ist) machen, wird natürlich auch registriert. Verhaltensmuster werden angelegt und daraus einerseits maßgeschneiderte Werbeangebote geschnürt, andererseits Wege ermittelt, wie die Attraktivität bzw. Abhängigkeit von den Apps und Plattformen weiter gesteigert werden kann.

Also, selbst wenn wir überhaupt nichts kaufen, arbeiten wir, wenn wir die Produkte der großen kommerziellen Anbieter im Internet nutzen, für sie. Wir liefern ihnen, unentgeltlich, die Informationen, die sie brauchen, um immer größer zu werden, uns immer besser zu kennen und durch individualisierte „Angebote“ immer mehr Einfluss auf unser Verhalten zu gewinnen. Wohin das führen kann, zum Beispiel im US-Wahlkampf, darüber wurde ausgiebig berichtet.  

Noch sind wir in Dänemark glücklicherweise keine ferngesteuerte Masse. Viele nutzen das Internet als Werkzeug und wissen, welchen Inhalten  und Anwendungen sie vertrauen können – und wo Vorsicht angebracht ist. Doch wer die unbestrittenen Vorzüge des Fortschritts, dem sich zu verweigern kein aussichtsreicher Weg ist, nutzen will, der ist in der Auseinandersetzung mit Facebook, Google und Co. auf sich selbst gestellt.

Denn es ist schon bemerkenswert, wie wenig sich die dänische Regierung darum kümmert, anstatt auf den Überwachungszug aufzuspringen („Vorratsdatenspeicherung“) und die Meinungsfreiheit durch neue Zensurinfrastrukturen für die sozialen Medien einzuschränken („NetzDG“). Weshalb schützt der Staat symbolisch und überflüssig Landesgrenzen zu befreundeten Staaten – uns aber nicht davor, zur digitalen Melkkuh von Unternehmen zu werden, die nicht unsere „Daten“, sondern de facto unsere Leben, unsere Persönlichkeit nutzen, um Profit zu generieren, der nicht mal hier versteuert wird?

Ist Dänemark etwa zu klein, um im Alleingang gegen die Weltkonzerne anzutreten? Braucht es hier etwa den starken Verbund der EU-Staaten und die kommende Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager, die ihren Posten mit dem Motto „ein Europa für das digitale Zeitalter“ versehen hat?

Ja. Doch leider ist es auch unter Mette Frederiksen äußerst unpopulär, die Vorzüge der EU zu betonen, ja, vielleicht gar einen gemeinsamen europäischen Weg zu propagieren.

Endlich dem Irrglauben öffentlich zu widersprechen, Dänemark könne die Herausforderungen der Zeit am besten für sich selbst und in Abschottung zum Rest der Welt angehen und lösen – das wäre mal ein Fortschritt.

 

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