Deutsche Minderheit
Vizedirektor stellte Weichen für ein aktives Rentnerdasein
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Vizedirektor stellte Weichen für ein aktives Rentnerdasein
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Nach 32 Jahren und 5 Monaten in den Diensten des Verbandes Deutscher Büchereien Nordschleswig verabschiedet sich Jørgen Nissen Mittwoch in den Ruhestand. Der Süderwilstruper avancierte 2006 zum stellvertretenden Direktor des Bibliothekwesens der Deutschen Minderheit. Davor fuhr er mit dem Bücherbus über Land.
Bei einem Empfang für geladene Gäste wird Jørgen Nissen am heutigen Mittwoch, 1. September, vom Büchereiverband in Rente geschickt. Der stellvertretende Büchereidirektor scheidet nach 32 Jahren und 5 Monaten aus dem Berufsalltag aus. Der 69-Jährige aus Süderwilstrup (Sønder Vilstrup) ist gut vorbereitet auf die Zeit nach dem Arbeitsleben: Jørgen Nissen ist aktives Mitglied der Dorfgemeinschaft, seine große Familie und vielseitige Interessen sorgen auch für Abwechslung.
Jørgen Nissen und seine Frau Bente leben seit 1989 auf dem „Ravnsgård“, den sie 1995 von seinen Eltern Knud und Elke Nissen kauften. Der um 1870 erbaute Hof liegt am Rande des Dorfes. Jørgen Nissens Urgroßvater kaufte das Anwesen 1890. Sein Urgroßvater, mütterlicherseits, Pastor Johannes Schmidt-Wodder, taufte Jørgen Nissen auf dem Elternhof. „Auf dem Taufschein schrieb mein Urgroßvater meinen Vornamen mit zwei Punkten über dem O. Der Gemeindevorsteher benutzte die dänische Schreibweise. Die Tastatur seiner Schreibmaschine wird keine deutschen Buchstaben gehabt haben", überlegt Jørgen Nissen. Er hat beschlossen, sich nach der Schreibweise der Behörde zu richten. Auf seinem Arbeitsplatz unterschreibt er deutsche Dokumente mit einem Ö: „Das ist ein eindeutiges Erkennungszeichen. Dann wissen alle, dass ich das war."
Mit dem alten Hof und dem großen Garten sei seine To-do-Liste lang, verrät Nissen und lacht, als wir uns im Vorfeld der Verabschiedung zum Interview im Gartenhäuschen gegenübersitzen.
Großer Garten in ländlicher Idylle
Der baumumgrenzte Garten erstreckt sich über einen Hektar. Rehe und andere Wildtiere werden auf der Suche nach Futter angelockt von Rosenbeeten, Obststräuchern und Stauden. Obwohl Bente und Jørgen Nissen ihre Beeren und Rosenknospen gerne für sich behalten würden, spazieren drei Rehkitze ab und an durch den Garten. „Wir beobachten die Kitze, wenn wir im Gartenhaus sitzen“, sagt Jørgen Nissen.
Krankheitsbedingte Pause setzte Überlegung in Gang
Jørgen Nissen fiel im Sommer 2020 beim Heckenschneiden von der Leiter. Der Unfall zog eine Krankmeldung beim Büchereiwesen mit sich, denn er brach sich einen Knochen in der rechten Hand. Der heftige Aufprall brachte ihm auch Beschwerden in der rechten Schulterregion. Nach intensiver Rehabilitation konnte der stellvertretende Direktor Ende des Vorjahres stundenweise den Dienst aufnehmen. Im Frühjahr kehrte er in Vollzeit zurück. Während der krankheitsbedingten Auszeit reifte in ihm der Gedanke, sich pensionieren zu lassen.
„Ich hätte mit 65 in Rente gehen können. Es ist ein guter Arbeitsplatz und ich habe mich wohlgefühlt. Aber jetzt ist es so weit, und ich freue mich auch darauf“, sagt der 69-Jährige.
Abitur am Gymnasium
Jørgen Nissen und seine vier jüngeren Brüder haben die Einrichtungen der deutschen Minderheit besucht. Nach der Unterstufe in der damaligen deutschen Schule in Süderwilstrup und dem Realexamen an der deutschen Schule in Hadersleben (Haderslev) wechselte Nissen an das Deutsche Gymnasium für Nordschleswig (DGN) in Apenrade (Aabenraa). Dort legte er 1972 sein Abitur ab.
„Danach wollte ich weg aus Nordschleswig. Als ältestes Kind musste ich bei meinen Eltern alles Durchboxen für meine vier Brüder. Wenn sie Mofa fahren oder abends länger ausbleiben wollten, ließen meine Eltern das meistens durchgehen, weil ich mir das erkämpft hatte“, sagt Nissen und schmunzelt.
17 Jahre in der jütischen Hauptstadt
Der Minderheitendeutsche ging nach Aarhus, wo er zunächst Biologie und Chemie studierte. Mit Chemie als Hauptfach freundete er sich nie an. Nissen brach das Studium ab und leistete seinen Wehrdienst ab bei „Jyske Telegrafregiment“. Der Rekrutenzeit folgte eine Festanstellung bei dem Regiment. Als Obergefreiter beschäftigte sich Nissen mit dem Spezialgebiet Kommunikation. Als sein Bataillon von Aarhus nach Tondern (Tønder) verlegt wurde, kündigte er Ende 1977. Nach dreiwöchiger Arbeitslosigkeit arbeitete er zunächst als Frachtgutfahrer und später wechselte er zu der kommunalen Stromversorgung.
Nachdem er den angepeilten Ausbildungsplatz als Elektriker bei der Stromversorgung aufgeben musste, weil der Kommune die Erlaubnis entzogen wurde, Lehrlinge auszubilden, belegte er an der Universität den Studiengang Psychologie. „Ich hätte weitermachen können“, erinnert sich Nissen, der alle Examina „soweit bestanden hatte“, sich aber Ende 1988 entschloss, das Studium zu beenden.
Neuanfang in Nordschleswig
Nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin, mit der er zwei Kinder hat, lernte er 1983 seine spätere Ehefrau kennen. Bente und Jørgen Nissen heirateten 1985. Nach der Geburt von Tochter Ane (1987) entschloss sich die kleine Familie 1989 den „Ravnsgård“ zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen. Damit kamen sie auch dem Wunsch von Knud und Elke Nissen entgegen. Das alternde Ehepaar machte sich Gedanken um die Zukunft des Familienhofes. „Meine Frau, die aus Horsens stammt, wollte auch gerne mit nach Süderwilstrup“, erinnert sich Jørgen Nissen.
Einen beruflichen Neuanfang hatte Nissen schon in Nordschleswig gefunden, weil das Büchereiwesen der Minderheit zeitgleich einen Mitarbeiter für die Fahrbücherei 1 gesucht hatte: „Ich habe mich beworben und die Stelle bekommen.“ Dabei trat er fast in die Fußstapfen von Vater Knud, der viele Jahre mit der Fahrbücherei 2 über Land gefahren war.
„Meine Eltern sind damals ins Altenteil gezogen“, erinnert sich Nissen an hektische Monate. Innerhalb von acht Wochen mussten der Umzug und die Renovierung des Altenteils vollzogen werden. Im Frühsommer 1989 stellte sich auch heraus, dass Bente Nissen nicht nur mit einem Kind, sondern einem Zwillingspärchen schwanger war.
Bücher auf Rädern für den ländlichen Raum
Die Zwillinge, Malte und Jonatan, kamen im September 1989 auf die Welt. Jørgen Nissen hatte sich zu dem Zeitpunkt schon gut zurechtgefunden mit der Arbeit im Bücherbus. Er hatte im April das Fahrzeug von Theodor Petersen übernommen. Petersen begleitete ihn auf der ersten Tour. Nissen war froh, dass er sich auch auf eine gründliche Einführung von zwei erfahrenen Bibliothekarinnen der Hauptbücherei stützen konnte, bevor er ins Rennen geschickt wurde.
17 Jahre am Steuer der Fahrbücherei
Mit dem Bücherbus 1 ist Nissen 17 Jahre über Land gefahren von Apenrade aus in Richtung Südwesten in den Raum Tingleff (Tinglev) und an die Westküste nach Hoyer (Højer), Ruttebüll (Rudbøl) und Seth (Sæd). Er ist des Weiteren auf Alsen und an der Ostküste südlich von Apenrade, unterwegs gewesen. Der Verband Deutscher Büchereien hat, außer der Zentralbücherei und Büchereizentrale in Apenrade, Standorte in Tondern (Tønder), Tingleff, Hadersleben und Sonderburg (Sønderborg).
Toller und abwechslungsreicher Job
„Das ist der erste Job in meinem Leben, den ich mehr als vier Jahre ausgehalten habe. Die Leser, die anfangs einmal im Monat und später jede sechste Woche betreut habe, waren sehr verschieden“, freut sich Nissen „über einen tollen und abwechslungsreichen Job und eine gute Arbeit“. Als Bücherbusfahrer betreute er rund 350 Familien, zu denen er größtenteils freundschaftliche Bande knüpfte. Ihm war es stets wichtig, die Nutzer bei ihrer Wahl der Medien professionell zu unterstützen. Ein unverzichtbarer Bestandteil seines Alltags war auch der soziale Aspekt.
„Die Arbeitstage im Bücherbus waren lang und es war unmöglich vorauszusehen, wann ich nach Hause kam“, erinnert sich Nissen. Im Laufe der Jahre habe die Onlineverbuchung auch Einzug gehalten in die Busse. Anfang der 1990er Jahre bekam Jørgen Nissen sein erstes Diensthandy. „Das war, nachdem meine inzwischen verstorbene Kollegin Telse Griffel eine Reifenpanne erlitten hatte auf der Autobahn. Sie beschwerte sich am Tag danach bei unserem damaligen Direktor Hans Walter Petersen, dass sie fußläufig eine lange Strecke zur Notrufsäule zurücklegen musste. Dann bekam sie ein Handy“, verrät Nissen. Nachfolgend wurden auch die beiden anderen Fahrbüchereien mit Handys ausgestattet. Sparmaßnahmen zwangen den Büchereiverband 2003 dazu, die Anzahl der Fahrbüchereien auf zwei Busse zu reduzieren.
Das ist der erste Job in meinem Leben, den ich mehr als vier Jahre ausgehalten habe.
Jørgen Nissen, scheidender Vizedirektor
Seit 2006 ein Teil der Geschäftsleitung
Nach dem plötzlichen Tod der stellvertretenden Direktorin Ute Hansen beriefen der damalige Vorsitzende des Büchereiverbandes Philipp Iwersen und Direktor Nis-Edwin List-Petersen Jørgen Nissen in die Geschäftsleitung. Als stellvertretender Direktor hat sich Nissen ab 2006 unter anderem mit der Personalverantwortung, Planung der Arbeitsabläufe und als übergeordneter Verantwortlicher für die Finanzen beim Einkauf des Bestandes in den fünf Standorten und der beiden Bücherbusse beschäftigt. Für die Zentralbücherei ist Nissen für den Einkauf der Sachliteratur in den Themenbereichen Sport, Pädagogik, Psychologie, Politik, Sozialpolitik, Biologie und Landwirtschaft zuständig gewesen.
Der Mann für alle Fälle
Des Weiteren ist er verantwortlich für das Management der büchereiinternen IT gewesen. Er begleitete von Anfang an die Einführung „der ganzen EDV“. Es war sein erster Chef, Direktor Hans Walter Petersen, der die Gelegenheit beim Schopfe fasste und bei einem grenzüberschreitenden EDV-Projekt, die Digitalisierung in die Wege leitete. Petersens Nachfolger Nis-Edwin List-Petersen und ab 2015 Claudia Knauer setzten die Entwicklung erfolgreich fort. Dabei konnte unter anderem 2013, die erste offene Bücherei eingeweiht werden.
Auf Augenhöhe mit den dänischen Kollegen
Stolz ist der stellvertretende Direktor auch auf die jetzige Büchereifiliale im Multikulturhaus in Sonderburg. „Das Haus wurde 2017 eingeweiht. Ich habe das zusammengezählt. Im Laufe der Jahre habe ich an etwa 80 Sitzungen zum Bau des Hauses teilgenommen“, lacht Nissen.
Einen unauslöschlichen Eindruck hinterlässt eine Sitzung mit der Kommune Sonderburg. „Claudia Knauer und mir wurde von der Kommune eine Summe Geld für den Kauf von Inventar für unsere Filiale angeboten“, sagt Nissen. Falls die Minderheit dieselbe Summe beisteuern konnte, sollte die Filiale mit dem gleichen Inventar, wie die dänische Bücherei ausgestattet werden. Dem Bund Deutscher Nordschleswiger (BDN) gelang es, so Nissen, die Mittel aufzubringen, sodass das große Haus einheitlich eingerichtet werden konnte.
„Da haben wir gemerkt, dass wir auf Augenhöhe mit den dänischen Kollegen waren und gleichberechtigt an dem Projekt teilnehmen“, sagt Jørgen Nissen. Es ist vertraglich festgehalten, dass die deutsche Minderheit den Teil des Inventars, für das sie bezahlt hat, bei einem Wegzug aus dem Multikulturhaus mitnehmen kann.
Das große Aufräumen vor dem Abschied
Nissen nutzte die erste Corona-Schließzeit für die Umstellung sämtlicher Rechner des Büchereiwesens auf das Betriebssystems Windows 10.
Die letzten Monate auf seinem Posten verbringt er unter anderem damit seinen Schreibtisch aufzuräumen und sein umfassendes Archiv auf Vordermann zu bringen. In der Vorwoche hat er das Nordschleswig-Filmarchiv, das im Keller der Bücherei lagerte, in die Obhut von Hauke Grella, dem Leiter des Museums Nordschleswig in Sonderburg, gegeben. Der Filmfundus der Minderheit wurde 2007 von Thomas Lampe digitalisiert. Jørgen Nissen stand ihm bei dem Projekt zur Seite.
„Meine ganzen Tätigkeiten werden aufgeteilt werden und in Zukunft von mehreren Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen werden“, so der scheidende Vizedirektor.