Leitartikel

„Das Nein aus Kloster“

Das Nein aus Kloster

Das Nein aus Kloster

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Kopenhagen
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Achtung, trotz des russischen Krieges in der Ukraine ist die dänische Volksabstimmung über die Abschaffung des Verteidigungsvorbehalts am 1. Juni kein Selbstläufer. Gewehre allein zählen nicht, schreibt Siegfried Matlok in seiner Analyse – ohne Gewähr!

Die sogenannten alten staatstragenden Parteien, die – von wenigen Perioden abgesehen – die außen-, sicherheits- und europapolitische Linie Dänemarks bestimmt haben, entschieden sich kürzlich bei einer Sitzung der Parteivorsitzenden unter der Leitung von Staatsministerin Mette Frederiksen, am 1. Juni eine Volksabstimmung durchzuführen in der Hoffnung, den bisherigen Vorbehalt gegen eine dänische Beteiligung an einer künftig engeren EU-Verteidigungspolitik abzuschaffen. Sozialdemokraten, Venstre, Konservative und Radikale haben aber diesmal eine fünfte Partei mit an Bord, die früher auf der anderen Seite gestanden hatte: SF!

Just in einer Zeit, da in Europa durch den Überfall Russlands auf die Ukraine ein Krieg ausgebrochen ist, mögen ältere Mitbürger sich verwundert die Augen reiben und daran denken, wie SF überhaupt zustande kam: durch den Alt-Kommunisten Aksel Larsen, der noch kurz vor der deutschen Besatzungszeit in Dänemark 1939 den Hitler-Stalin-Pakt begrüßt hatte. Sein inneres Damaskus erlebte er, als die Sowjets 1956 den ungarischen Aufstand niederwalzten. Larsen verließ aus Protest die DKP-Kommunisten und gründete die Sozialistische Volkspartei (SF), die jahrzehntelang einen Anti-Nato- und Anti-EU-Kurs fuhr und in der dänischen Bevölkerung vorübergehend über eine Art Vetorecht verfügte.

Unvergessen bleibt die Volksabstimmung 1992 über den Maastrichter Vertrag, den der damalige Parteivorsitzende Holger K. Nielsen zu Fall brachte – auch durch den berühmten Slogan „Holger og Konen siger nej til Unionen“.

Die Ehe mit Frau Kirsten, die aus Lügumkloster stammte, besteht schon lange nicht mehr, und auch in politischer Richtung hat sich Holger K. verdienstvoll neu positioniert, die Partei von einem „Nein-so-nicht-jetzt-Nicht“ zu einer konstruktiven linken Zentrums-Kraft in der dänischen Politik verwandelt.

Die Wende kam nach dem mit 50,7 Prozent hauchdünnen Nein zu Maastricht, als die bürgerliche Minderheits-Regierung Schlüter-Ellemann-Jensen sogar vor der Frage stand, eventuell die EU zu verlassen, doch gemeinsam mit den Sozialdemokraten einigte sich SF mit der bürgerlichen Regierung auf einen sogenannten nationalen Kompromiss. Auf vier Vorbehalte, die auf dem EU-Gipfel in Edinburgh bei den anderen Partnern auf harten Widerstand und Ablehnung stießen, bis Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem massiven Rückhalt für Schlüter die damaligen vier Vorbehalte durchsetzte.

Bei einer Volksabstimmung 1993 wurde dann – auch mit SF-Unterstützung – ein Maastricht-light-Vertrag angenommen, aber die Vorbehalte („opt out“) sind dennoch seitdem geblieben, schon mehr als ein Vierteljahrhundert. Der Versuch, inzwischen den Euro in einer Volksabstimmung auch in Dänemark durchzuführen, scheiterte ebenso deutlich wie ein Referendum über den von Dänemark mehrfach geltend gemachten Vorbehalt gegen eine gemeinsame Rechtspolitik in der Union; Letztere ließ sich wegen der strammen Ausländerpolitik der Dänen mehrheitlich nicht realisieren.

Der verteidigungspolitische Vorbehalt hat die dänischen Regierungen – ob Rot oder Blau – irritiert, und oft genug wurde über die Möglichkeit einer neuen Volksabstimmung laut nachgedacht, doch zwei bittere Niederlagen bei EU-Volksabstimmungen haben die dänischen Politiker gelehrt, nichts für sicher zu halten, wenn nicht schon vorab bei Meinungsumfragen mindestens 60 Prozent „solide“ für eine Annahme stimmen wollen. Ärgerlich bisher für ein Land, das seit 1990 eine aktivistische Außen- und Sicherheitspolitik geführt hat und das vor allem an der Seite der USA gerne eine nicht nur in Washington beachtete internationale Rolle spielen will; Stichworte Irak-Krieg und Afghanistan.

Dass bei einigen wenigen EU-Einsätzen dänischen „Jensern“ die Mitwirkung verwehrt wurde, ist so manchen auf Christiansborg ein Dorn im Auge. Und bei aller Tragik: Wenn angesichts der Ukraine und der seit Jahren deutlichen pro-militärischen Sympathien im Volk nicht jetzt eine Volksabstimmung über den Verteidigungsvorbehalt erfolgreich durchgeführt werden kann, wann dann?

Nun, alle hoffen natürlich, dass der Krieg in der Ukraine am 1. Juni beendet sein wird – wie auch immer –, dennoch ist ein Ja-Sieg bei der Volksabstimmung keineswegs sicher, auch wenn die Parteien mit SF politisch eine breite Mehrheit darstellen und auch der frühere Außenminister Holger K. die Annahme empfiehlt.  

Der Gegner steht rechts und links zum Gefecht bereit: Rechts die Dänische Volkspartei (so als hätte Messerschmidt für sich plötzlich neue Lebenskräfte entdeckt) und „Ny Borgerlige“ und links insbesondere die Einheitsliste unter der Leitung von Mai Villadsen, die immerhin den russischen Angriff eindeutig verurteilt hat. Schon gibt es kreative Köpfe, die einen Slogan mit dem Motto „Mai siger Nej“ propagandistisch ins Feld führen wollen, aber auch wenn diese Parteien politisch keine Mehrheit haben, so haben sie einen gemeinsamen Feind ausgemacht: die EU. Sie betonen, dass sie natürlich den Russen-Krieg ablehnen, doch dann ist auch Schluss mit lustig, denn während der rechte Flügel vor allem seine Treue zur Nato und zu den USA beschwört und der EU keine Waffen zubilligen will, möchte die Einheitsliste von den Amerikanern und der Nato noch weniger wissen als von einer militärischen EU-Säule.

Dieses Sammelsurium an Motiven kann durchaus auch gewisse EU-skeptische Wählerkreise in anderen Parteien ansprechen. Die große Herausforderung für die Ja-Parteien, insbesondere für die Sozialdemokraten und SF, besteht darin, den Wählern überzeugend zu erklären, wie sie angesichts steigender Verteidigungsausgaben (2 Prozent Nato) auch andere Ziele wie Klima und soziale Gerechtigkeit erreichen und finanzieren wollen. Hinzu kommt, dass Äußerungen von Mette Frederiksen noch aus jüngster Zeit, die Vorbehalte seien für Dänemark bedeutungslos, nun den kommenden Wahlkampf nicht erleichtern werden. Mit anderen Worten: Trotz der zurzeit noch deutlichen Ja-Mehrheit für eine Abschaffung ist das Rennen völlig offen.

Die außen-, sicherheits- und europapolitischen Gründe sind zwar schwerwiegend – übrigens nicht nur wegen der Ukraine –, doch von früheren Volksabstimmungen weiß man, dass die Wähler am Ende oft verunsichert in der Wahlkabine stehen. Oft genug waren bei ihrem Nein-Votum ganz andere Motive ausschlaggebend – innenpolitische.

Manche Entscheidung wurde dazu benutzt, dem amtierenden Staatsminister einen Denkzettel zu verpassen. Für Mette Frederiksen nicht ohne Risiko, auch weil ihr so manche ihre Nähe/Vorliebe zu den Amerikanern übel nehmen und zum Beispiel ihre aktuellen Pläne für die Stationierung von US-Boys auf dänischem Boden kritisch beurteilen. Und – nur mal so als Szenario – was ist, wenn der Nerz-Skandal plötzlich explodiert? Wenn also die Debatte vor dem Urnengang am 1. Juni aus dem Ruder läuft, weil ganz andere Themen die Kernfrage auch emotional verdrängen, dann hat der rationale Fünfer-Klub nach dem 1. Juni ein gewaltiges Problem.

Dies soll wahrlich keine Schwarzmalerei sein, sondern ist vielmehr ein Appell, dass die Befürworter sich auf einen harten – vermutlich leider auch unfairen – Kampf einstellen und dass sie in dieser historischen Stunde nicht versagen. Und sich vor allem auch nicht innenpolitisch verzetteln.

 

 

 

 

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