Kulturtage

Deutschland: „Nicht mehr das Land, das wir als Kind kennenlernten“

„Deutschland ist nicht mehr das Land, das wir als Kind kennenlernten“

Reiter: Deutschland ist nicht mehr so, wie es einst war

Tondern/Tønder
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Ernste und humorvolle Reportagen, die er für das dänische Fernsehen in Deutschland produziert hat, stellte Michael Reiter in Tondern vor. Foto: Brigitta Lassen

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Der frühere Auslandskorrespondent Michael Reiter führte sein Publikum bei einer journalistischen Reise durch die Bundesrepublik von gestern und heute und machte einen Schwenker nach Tondern – seiner zweiten Heimat.

Die Veranstalter und der Referent zeigten sich freudig überrascht, dass am Montagabend 70 Personen ins Brorsonhaus gekommen waren. Damit waren alle Plätze besetzt. Mehr durften es aus Brandschutzgründen nicht sein.

Ein Vortrag des früheren Auslandskorrespondenten des dänischen Fernsehkanals „DR“ in Deutschland, Michael Reiter, stieß auf derart großes Interesse, dass sogar einigen abgesagt werden musste. 

Der 49-Jährige nahm sein Publikum mit auf seine journalistische Reise durch die Bundesrepublik und zeigte eine Vielzahl seiner Reportagen aus Dänemarks südlichstem Nachbarland. 

Bis auf den letzten Platz war das Brorsonhaus besetzt. Foto: Brigitta Lassen

Von seinem Besuch im Wursthotel in Franken und Reportagen über die Vorzüge des 9-Euro-Tickets, mit dem man bei einer schweißtreibenden Kraftanstrengung im Zug in zehn Stunden von Berlin nach Köln fahren kann oder über Deutschland als Schnellfahrnation auf Autobahnen berichtete er auf lockere Weise.

Auf seiner Rundreise machte der Sohn eines deutschen Vaters und einer dänischen Mutter auch halt in Tondern, seiner zweiten Heimat, wie er erzählte. Zwar in Sonderburg geboren, zogen die Eltern in die Stadt, in der Reiter bis zu seinem vierten Lebensjahr aufwuchs. Bis zur Scheidung seiner Eltern. 

Rückkehr nach Dänemark

Nach einem sechsjährigen Studium in Kopenhagen zog es ihn aber nach Deutschland. Es sollte nur für ein Jahr sein. Es wurden 22 Jahre, bevor er sich entschloss, im vergangenen Jahr mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Dänemark zurückzukehren. 11 Jahre war er als Deutschland-Korrespondent tätig.

22 Jahre lebte Michael Reiter in Dänemark. Foto: Brigitta Lassen

Die gegenwärtige Stimmung in Deutschland sei teilweise Schuld an seiner Rückkehr nach Dänemark gewesen. „Denn das Deutschland, das wir als Kind kennengelernt haben, gibt es nicht mehr“, so Michael Reiter.

Krise teils selbstverschuldet

Die Energiekrise, die Krise in der Automobilbranche, Einwanderung und Integration hätten am Selbstwertgefühl der Deutschen genagt. Sie fühlten sich in ihrer Existenz bedroht. Sie hätten aufgrund ihrer Geschichte und Schuldgefühl keinen Mut, Stellung zu beziehen. Das Land hätte mit Hitler und der DDR zwei Diktaturen erlebt. Daher halte man sich lieber an die Traditionen, die noch zu gebrauchen waren. Daher müsse man sie nicht ändern. 

Dass die Wirtschaftslokomotive nicht mehr mit voller Fahrt vorausfuhr, sei teils selbstverschuldet, so Reiter. „Die deutschen Autobauer, die hervorragende Fahrzeuge bauen, haben nur auf Diesel- und Benzinautos gesetzt, sie bekommen das mit einer guten Software nicht hin“, sagte er. 

Aber dennoch fühlen sich die Menschen nicht als Gesamtdeutsche und bewegen sich in zwei Richtungen, was schade ist.

Michael Reiter

Zudem glaubten sie, auf alle Zeiten billige Energie aus Russland abnehmen zu können. „So wird das Land von mehreren Seiten bedrängt. Für mich war die Wiedervereinigung eines meiner größten Erlebnisse meines Lebens. Ich war damals 15 Jahre alt. Aber dennoch fühlen sich die Menschen nicht als Gesamtdeutsche und bewegen sich in zwei Richtungen, was schade ist. Aber die jüngeren Jahrgänge sind dabei, sich zueinander zu bewegen“, meinte Reiter, der bei seinem zweistündigen Vortrag interessierte und fragewillige Zuhörerinnen und Zuhörer fand.

Die politische Entwicklung im Land und die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AFD) ließen so manchem im Publikum Sorgenfalten in die Stirn treiben. „Obwohl ich mich mit dieser Partei so viel beschäftigt habe wie mit keiner anderen, kann ich nicht sagen, ob die AFD für Deutschland eine Gefahr ausmachen wird“, räumte der Fernsehjournalist ein.

Michael Reiter und Gemeinderatsmitglied Dirk Andresen sangen mit dem Publikum das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ in deutscher und dänischer Fassung gleichzeitig. „Das habe ich nicht gewusst, dass das möglich ist“, lachte der Referent. Foto: Brigitta Lassen

Es habe ihn nie gestört, wenn er als Halbdeutscher gemobbt wurde, was aber nicht vorgekommen sei. Er zeigte Respekt für die Deutschen, dass sie früher alles mit links meistern konnten. 

„Die Deutschen sind auch heute noch sehr tüchtig bei so vielem. Sie sind auch gut im Erfinden und einige ihrer Traditionen sind zum Standard und zu Normen geworden. Doch sie müssen alles von A bis Z hinterfragen und dies nochmals zehnmal wiederholen. Dabei müssen sie aus dem Loch kommen, in das sie sich hineingraben“, lautete der Abschlusssatz von Michael Reiter, der an diesem Abend auch von seiner Kindheit in Tondern eingeholt wurde. Dazu folgt ein weiterer Artikel.

 

(Der Vortragsabend war eine Gemeinschaftsveranstaltung des BDN, des Sozialdienstes, der deutschen Bücherei und der deutschen Kirchengemeinde. Er ist Teil der Kulturtage in der Kommune Tondern, die vom 30. September bis 13. Oktober in der ganzen Kommune gefeiert werden).

 

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