Tagung in Sankelmark

Estland-Kennerin Kirsten Schulze: So könnte Putin das Baltikum auch ohne Krieg destabilisieren

So könnte Putin das Baltikum auch ohne Krieg destabilisieren

So könnte Putin das Baltikum auch ohne Krieg destabilisieren

SHZ
Oeversee
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Die Geografin Dr. Kirsten Schulze (54) ist Tagungsleiterin an der Akademie Sankelmark. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die baltischen Staaten, Russland und die Ukraine. Während er Arbeit an ihrer Promotion hat sie bis 2004 längere Zeit in Estland gelebt. Foto: Akademie Sankelmark/shz.de

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Kirsten Schulze leitet an der Akademie Sankelmark regelmäßig Seminare zur Lage in Osteuropa. Im Interview erklärt sie, warum Estland, Lettland und Litauen fürchten, vom Rest der Nato abgeschnitten zu werden.

„Die baltischen Staaten 30 Jahre nach der Unabhängigkeit“ ist das Thema einer Tagung an der Akademie Sankelmark vom 4. bis zum 6. März. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine haben das geplante Programm in weiten Teilen umgeworfen. Tagungsleiterin und Estland-Kennerin Dr. Kirsten Schulze spricht im Interview über die aktuelle Lage in den baltischen Republiken und auch über die Ukraine, die sie zuletzt vor zwei Jahren besuchte.

Frau Schulze, wie ist die Lage im Baltikum? Stellen sich die Menschen auf eine russische Invasion ein?
Das Gefühl der Bedrohung ist ja schon seit Jahren latent da. Das Bedrohungsgefühl hat sich jetzt drastisch geändert.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Putin nach der Ukraine auch die baltischen Staaten angreift?
Estland, Lettland und Litauen sind ja Mitglieder der Nato. Ich habe doch große Zweifel, dass Putin da einen Angriff riskieren wird.


Welche Möglichkeiten hätte er, unterhalb eines militärisches Eingreifens die Länder zu destabilisieren?
Das könnte er über die russischen Minderheiten tun, die es insbesondere in Estland und Lettland gibt. Dort sind jeweils rund 20 Prozent der Bevölkerung russischsprachig. Viele von ihnen leben in einer eigenen Blase, sehen nur russisches Fernsehen und lesen russische Webseiten und Zeitungen. Aber mehr als 30 Jahre nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten ändert sich das auch. Viele Russen schicken ihre Kinder inzwischen auf estnische und lettische Schulen.

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Wie ist das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaften zu diesen Minderheiten?
Das hat sich in den letzten zehn Jahren merklich entspannt. Es ist zum Beispiel in Estland deutlich einfacher geworden, sich einbürgern zu lassen. Vor 20 Jahren, als ich in Estland gelebt habe, habe ich mich sehr beeilt, die estnische Sprache zu lernen. Ich merkte, dass ich mit meinen Russischkenntnissen nicht willkommen war. Das ist heute ganz anders, Speisekarten im Restaurant oder Beschriftungen im Museum gibt es inzwischen auch auf Russisch.

Also wird wieder mehr Russisch gesprochen?
Nein, das nicht. Die jüngere Generation lernt eher Englisch und manchmal auch Deutsch. Viele Menschen haben zwar weniger emotionale Probleme mit dem Russischen, aber sie können die Sprache einfach nicht mehr.

Könnten der Ukraine-Krieg und die aktuelle Bedrohungslage das Verhältnis der beiden Bevölkerungsgruppen wieder verschlechtern?
Ich bin mir da nicht ganz sicher. Da bin ich auch gespannt darauf, was die anderen Referenten auf unserer Tagung in Sankelmark sagen werden.

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Zu der Tagung haben Sie auch eine Vertreterin der litauischen Botschaft in Berlin eingeladen, Rimgailė Jankauskiene. Litauen hat keine große russische Minderheit. Wie ist die Lage dort?
In Litauen hat das Gefühl der Bedrohung einen anderen Hintergrund. Südlich von Litauen liegt ja die russische Exklave Kaliningrad, das Gebiet um das frühere Königsberg. In Litauen gibt es die Sorge, dass Russland versuchen könnte, eine Landverbindung von Belarus nach Kaliningrad zu besetzen. Die sogenannte Suwalki-Gap ist nur 70 Kilometer lang. Sollte Russland diesen Streifen besetzen, wären Litauen und auch die beiden anderen baltischen Republiken vom Rest des Nato-Gebiets abgeschnitten.

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Zu Ihrer letzten Tagung in Sankelmark im Januar hatten Sie zum Thema „Ein neuer Ost-West-Konflikt“ auch den Luftwaffenattaché der russischen Botschaft in Berlin zu Gast. Wie war das?
Sein Vortrag war sehr „interessant“ und „aufschlussreich“. Was er sagte, klang ganz ähnlich wie das, was wir in den vergangenen Tagen von Wladimir Putin zur Begründung für den Krieg gehört haben.

In der Ukraine waren Sie zuletzt vor zwei Jahren. Wie haben Sie die Stimmung dort erlebt?
Ich war zu Gast auf einer Hochzeit in Lwiw, zu Deutsch Lemberg, also ganz im Westen der Ukraine. Der Donbass war damals schon seit Jahren unter Kontrolle der Separatisten. Das war für die Menschen in Lemberg weit weg und zu der Zeit kein großes Thema.

Jetzt ist der Krieg in der ganzen Ukraine angekommen, auch in Lemberg.
Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich glaube, kaum jemand hat das erwartet. Man hat doch angenommen, dass sich der Krieg auf die östlichen Regionen beschränken wird. Ehrlich gesagt, hatte ich bis zuletzt erwartet, dass es eine diplomatische Lösung geben würde, dass Wladimir Putin vor einem Krieg zurückschrecken würde. Meine Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine. Der Überfall auf die Ukraine muss sofort beendet werden und die Parteien müssen zurück an den Verhandlungstisch.

  • Zur Tagung „Die baltischen Staaten 30 Jahre nach der Unabhängigkeit“ vom 4. bis zum 6. März nimmt die Akademie Sankelmark noch Anmeldungen an – auf der Akademie-Webseite sankelmark.de oder unter Tel. 04630/550.
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