Reichsgerichtsverfahren

Fall Støjberg: Jetzt kommt es auf die Sozialdemokraten an

Fall Støjberg: Jetzt kommt es auf die Sozialdemokraten an

Fall Støjberg: Jetzt kommt es auf die Sozialdemokraten an

Kopenhagen
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Es gibt eine ausreichende Grundlage für ein Verfahren gegen Inger Støjberg, schreiben zwei Anwälte. Foto: Mads Claus Rasmussen/Ritzau Scanpix

Eine historische Entscheidung bahnt sich an. Zwei unabhängige Anwälte kommen zu dem Ergebnis, dass ein Reichsgerichtsverfahren gegen die ehemalige Ausländerministerin Inger Støjberg eingeleitet werden kann. Eine Mehrheit des Folketings entscheidet, ob dies auch geschieht.

Der Ausschuss des Folketings, der sich Mittwoch um 9.30 Uhr traf, hat einen eher trocken klingenden Namen: Unterausschuss des Ausschusses für Geschäftsordnung.

Was sich bei der Sitzung abspielte, war dagegen hochexplosiv. Es ging darum, ob ein Minister zum nur zweiten Mal seit über 100 Jahren vor ein Gericht gestellt werden kann.

Zwei unabhängige Anwälte, die das Folketing um eine Einschätzung gebeten hatte, sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: Ja, es gibt eine Grundlage für ein Reichsgerichtsverfahren gegen Inger Støjberg (Venstre). Und ja, ein mögliches Verfahren kann durchaus zu einer Verurteilung führen.

Illegale Anordnung

Der Auslöser der Affäre ist eine Pressemitteilung der damaligen Integrations- und Ausländerministerin Støjberg. Hier forderte sie, dass sämtliche Asylpaare mit Frauen, die zu dem Zeitpunkt unter 18 Jahre alt waren, getrennt werden müssen.

Der Ombudsmann hat kurze Zeit später festgestellt, dass eine Praxis, wo dies ausnahmslos geschieht, illegal ist. 

Im Januar 2020 wurde dann die Anordnungskommission (instrukskommissionen) von einer Mehrheit des Folketings damit beauftragt zu untersuchen, ob Støjberg als Ministerin das Gesetz übertreten hat. Selbst nennt sie die Kommission konsequent die „Kindesbrautkommission“ (barnebrudskommissionen). Eine Sprachregelung, von der der Venstre-Vorsitzende Jakob Ellemmann-Jensen erst im Herbst abgerückt ist. 

Bericht: Støjberg ist gewarnt worden

Im Dezember veröffentlichte die Kommission dann ihren Bericht. Die Vorwürfe darin gegen Støjberg sind schwerwiegend: Sie sei gewarnt worden, dass die Praxis illegal sei, sie habe das Folketing angelogen und  dem Ombudsmann wichtige Informationen vorenthalten. Einzige Entlastung ist, dass die Kommission es nicht für eindeutig erwiesen hält, dass Støjberg ihren Mitarbeitern direkt befohlen hat, das Gesetz zu übertreten.

 

Einem weiteren zentralen Argument Støjbergs widerspricht die Kommission ebenfalls. 

„Die Kommission kommt zu dem Ergebnis, dass Inger Støjbergs Behauptung, sie habe vier Mädchen ‚gerettet‘, irreführend ist“, steht im Bericht der Kommission. 

Der Bericht beschreibt, dass die psychische Verfassung etlicher der Mädchen sich nach der Trennung verschlechtert hat. Selbstmordgedanken, Schlafprobleme und Appetitlosigkeit seien einige der Folgen gewesen.

„Ausreichende Grundlage“

Nachdem die Kommission ihren Bericht veröffentlicht hatte, erklärten die Liberale Allianz, Radikale Venstre und die Alternativen, sie wären für ein Reichsgerichtsverfahren. Eine Mehrheit des Folketings wollte jedoch zunächst unabhängige Anwälte um eine Einschätzung bitten.

Die Schlussfolgerung von Jon Lauritzen, Partner bei DLA Piper, und Anne Birgitte Gammeljord, Partnerin bei Rovsing & Gammeljord, konnte kaum deutlicher ausfallen.

„Es ist unsere Gesamteinschätzung, dass der Bericht (der Anordnungskommission, Red.) eine ausreichende Grundlage bietet, um eine Anklage gegen die ehemalige Ministerin Inger Støjberg beim Reichsgericht bezüglich der Einquartierungsregelung und der Verwaltung dieser zu erheben. Es gibt auch eine ausreichende Annahme, dass das Reichsgericht, wenn die Beurteilung der Beweislage durch die Anordnungskommission sich nicht ändert oder neue Beweise zutage gefördert werden, zu dem Ergebnis kommt, dass grobe Absicht oder grobe Unachtsamkeit vorliegt, und es somit zu einer Verurteilung kommen kann“, schreiben sie in ihrem Gutachten an den Ausschuss.

Sozialdemokraten müssen überlegen

Dieses Gutachten hat nun auch die Sozialistische Volkspartei und die Einheitsliste davon überzeugt, dass es ein Reichsgerichtsverfahren geben soll. 

Die Sozialdemokraten dagegen bleiben vage. 

„Nun müssen wir erörtern, welche Folgen dies haben soll“, sagte der Justizsprecher der Partei, Jeppe Bruus, nach der Sitzung. Fragen zum Inhalt des Gutachtens schmetterte er ab.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine Mehrheit des Folketings zu einem anderen Ergebnis kommen kann, als dass es ein Reichsgerichtsverfahren geben muss.

Ole Birk Olesen, Justizsprecher der Liberalen Allianz

Die Einstellung der Sozialdemokraten in dieser Frage ist entscheidend. Denn mit ihnen gäbe es eine deutliche Mehrheit für ein Verfahren. Mehre politische Beobachter kommen daher auch zu dem Ergebnis, dass der Regierungspartei nun die Schlüsselrolle spielt. 

Venstre-Chef Ellemann-Jensen hat bereits vergangene Woche erklärt, seine Partei würde letzten Endes ein Verfahren unterstützen, sollte eine Mehrheit des Folketings dafür eintreten.

Venstre und die Konservativen wollen nun in den kommenden Tagen die Situation in ihren Fraktionen besprechen. 

Støjberg: Grundlage fehlt

Der Justizsprecher der Liberalen Allianz, Ole Birk Olesen, nennt es „absurd“, sollte Støjberg nicht vor Gericht gestellt werden. 

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine Mehrheit des Folketings zu einem anderen Ergebnis kommen kann, als dass es ein Reichsgerichtsverfahren geben muss. Venstre und die Sozialdemokraten brauchen offenbar noch ein paar Tage, bis zu sie dieser Erkenntnis gelangen“, meint er.

Støjberg selbst meint weiterhin, dass es keine Grundlage für ein Verfahren gebe. Die Neuen Bürgerlichen und die Dänische Volkspartei unterstützen diese Auffassung.

Der erfahrene politische Kommentator Hans Engell meint dagegen, dass es kaum noch einen anderen Ausweg als ein Reichsgerichtsverfahren gebe. Er meint, dass weder die Sozialdemokraten, Venstre noch die Konservativen es sich leisten könnten, dagegen zu stimmen. 

Sollte Engell recht behalten, so wäre das ein historisches Ereignis. Nur fünfmal seit 1856 hat es ein solches Verfahren gegen einen Minister gegeben. Das letzte Mal war 1995, als der ehemalige konservative Justizminister Erik Ninn-Hansen im sogenannten Tamilfall zu vier Monaten bedingter Haft verurteilt wurde.  

In der kommenden Woche wird der Ausschuss für Geschäftsordnung seine Empfehlung an das Folketing abgeben.

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