Putins Krieg der Lügen

Wladimir Putin: Des Kaisers neue Lügen

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Meinungsvielfalt? Wladimir Putin auf allen Kanälen. Foto: Sergei Ilnitsky/dpa/shz.de

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Russlands Präsident Wladimir Putin schafft sich seine eigenen Realitäten – und zeigt der Sprache der Diplomatie die Grenzen auf.

Mit dem Ringen um das richtige Wort geht es schon los. Wie soll das genannt werden, was gerade in der Ukraine geschieht? Eine Invasion (Joe Biden)? Ein Angriff? (Olaf Scholz)? Eine Friedensmission (Donald Trump)? Oder gar: Eine Entnazifizierung (Wladimir Putin)?

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All diese Begriffe werden für den Krieg benutzt, den Russland Präsident Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine begonnen hat. Krieg. Das ist gleichzeitig das Wort, das Putin selbst unbedingt vermeiden will und dafür verbiegt er die Realität so weit, dass am Ende noch ein zweiter Begriff in den Fokus rückt: die Lüge. Auch sie ist eine effektive Waffe. Gerade dort, wo die Meinungsfreiheit unterdrückt wird und die Lüge zur Wahrheit umgedeutet, reicht es irgendwann, die objektiven Fakten einfach zu verneinen.

Autokratische Systeme funktionieren nicht mit Widerspruch

In Russland hat sich dieses System längst etabliert, Putin erzählt innerhalb seines Einflussbereichs seine eigenen Wahrheiten. Schön ist das Autokraten-Leben. Wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Jeder weiß, dass der Kaiser – oder war es ein Zar? – nackt ist, aber jeder der Anwesenden lobt die schönen Gewänder des eitlen Mannes. So funktionieren autokratische Systeme, weil der Widerspruch immer leiser wird; und die Notwendigkeit (und vielleicht auch das Bedürfnis) glaubwürdig zu erscheinen, damit immer geringer.

Konstruktive Zerstörung als neues russisches Politik-Prinzip

Am Ende stehen die sogenannten alternativen Fakten – und eine große alternative Erzählung. Jene etwa von der Selbstverteidigung Russlands gegen die Ukraine, die nur durch den eigenen Einmarsch verhindert werden kann.

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Russia Today, der Sender dem unlängst in Deutschland die Lizenz entzogen wurde, ließ gestern einen Moskauer Außenpolitik-Experten die von Putin eingeläutete Ära der „Constructive Destruction“ – der konstruktiven Zerstörung – sämtlicher außenpolitischer Beziehungen zum Westen loben. Dieses Mittel sei, das wurde betont, nicht aggressiv. Da treffen dann sogar zwei verzerrte Realitäten aufeinander: Die agressive Verteidigung und gleichzeitig die Neuordnung der Beziehungen durch ebenjene Aggression, die so aber nicht genannt werden darf. Die Widersprüche sind offensichtlich.

Der Informationskrieg als zusätzliches Feld

Aber es gibt auch Lügen, die weit weniger leicht zu entlarven und deshalb oft noch sehr viel wirkungsvoller sind. Manipulierte Fotos und Filme zum Beispiel, die in sozialen Netzwerken jetzt schon tausendfach geteilt werden. Sie zeigen mutmaßliche Angriffe der Ukrainer auf russische Einheiten oder US-amerikanische Panzer, die angeblich in Polen nahe der russischen Grenze verlegt werden. Mit diesen Filmen wird die Realität den Wünschen des Präsidenten und seiner Gefolgsleute angepasst. Es ist ein Informationskrieg neben dem militärischen Krieg.

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Und es wird immer schwieriger, die Wirkung dieser subtilen Propaganda einzudämmen. Weil sie überall gestreut wird, ganz beiläufig über die sozialen Medien, über Kanäle, die vorgeben, objektive Medien zu sein, oder während der Wahlkämpfe in anderen Ländern. Und viel zu oft treffen diese wirkmächtigen und lauten Lügen auf leise und abwägende Diplomatie. Kein Bereich der internationalen Politik hat in den vergangenen Jahren so an Einfluss verloren wie dieses oft nichtöffentliche Feld der flexiblen Kommunikation und des multilateralen Interessensausgleichs.

Verbale Höllenfahrt für den russischen Botschafter

Sinnbildlich für den Bedeutungsverlust war die offensichtliche Fassungslosigkeit vieler Beteiligter während der Sitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, als die Nachricht vom russischen Angriff die Runde erreichte, und der ukrainische UN-Botschafter seinem russischen Kollegen zurief: „Sie fahren direkt zur Hölle, Botschafter.“ Selten wurde ehrlicher, aber auch weniger lösungsorientiert in diesem Kreis gestritten.

Es scheint, als hingen das Aufkommen der großen politischen Lügen und die Abwertung der der diplomatischen Kommunikation direkt zusammen. Wer leise und abwägend spricht, wird weniger gehört, das ist ein Resultat des medialen Dauerrauschens.

Glattgeschliffene Äußerungen gegen Autokraten-Lügen

Aber auch die Geschliffenheit und Gleichförmigkeit politischer Äußerungen trägt zu ihrem Bedeutungsverlust bei. Scharen von Beratern und Pressesprechern schleifen nahezu jede politische Äußerung glatt. Und wenig hilfreich ist überdies auch der Rückzug der Politik aus den sozialen Medien, denn man überlässt damit das Feld der Aufmerksamkeit anderen. Donald Trump zum Beispiel, der Putin für seinen Einmarsch in die Ukraine lobte und ernsthaft behauptete, mit ihm selbst als US-Präsident wäre es nicht so weit gekommen. Trump lebt längst in einer Welt, in der die Lüge zum politischen Standard gehört.

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Wenn die westlichen und aufgeklärten Demokratien, die sich immer durch ein heterogenes Meinungsbild und schwierige Entscheidungsprozesse ausgezeichnet (und gehemmt) haben, in diesem Informationskrieg standhalten wollen, dann müssen sie konsequenter gegen diejenigen vorgehen, die Falschinformationen verbreiten – und auch diese perfide Form der Kriegsführung sanktionieren.

Es würde aber gewiss auch helfen, wenn politische Kommunikation wieder echter und unmittelbarer wäre. Dafür braucht es nicht noch mehr Berater und Sprecher, sondern vor allem mehr Mut, auch mal mit einer Aussage anzuecken. Nicht nur dann, wenn der Kaiser offensichtlich nackt ist.

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